Von der Urgeschichte bis in die junge Vergangenheit: Eine Genossame prägt das Dorf Reichenburg

Die Dorf- oder Hofgenossame von Reichenburg hat ein hohes Alter, der heutige Name der Allgemeinen Genossame Reichenburg (AGR) ist allerdings jung. Fast bis zur Gegenwart bildete die Siedlung beim heutigen Reichenburg eine maximale Einheitsgemeinde mit Politik, Gemeinde- und Kirchenverwaltung, Schule und der Genossame unter einem Dach. Die mündigen, politisch verantwortlichen Einwohner waren Untertanen, Allmend- und Kirchgenossen in einem.

Dieser historische Abriss von Dr. Beat Glaus findet sich in voller Länge in der AGR-Jubiläumsfestschrift, die bei der Allgemeinen Genossame Reichenburg (agr@allgemeingenossame.ch) oder beim Marchring (www.marchring.ch) bestellt werden kann.

 

Georg Hartmann: Die Richenburg, «auf Felsklotz im Linthschutt». Hartmann zeichnete in übertriebener Fantasie die Burg von Südwesten, «mit mehreren Firsten, Kapellen und Holzbrücke». Carl Deuber fertigte dieses Bild nach einer Vorlage an.

 

 

Die ältesten Siedlungsspuren sind am Reichenburger Bölgen zu finden. Sie lassen sich auf die frühe Bronzezeit um etwa 1500 vor Christus datieren. Möglicherweise stammen diese von Vorläufern der Pfahlbauer oder Helveter. Die Richenburg ist 1300 nach Christus urkundlich belegt. Sie gehörte samt mehreren Siedlungen dem Dienstadligen Hartmann von Windegg. Ursprünglich wohl Einsiedler Verwalter, stand er nun einigermassen selbstständig auf habsburgischer Seite. 1370 bis 1798 unter Einsiedeln, berief der Vogt des Klosters als Ortsoberer die Hofleute zu den untertänigen sowie genössigen Versammlungen ein. Das Kloster privilegierte diejenigen Genossen, welche die Alpen urbar gemacht hatten. Sie bildeten eine separate Alpgenossame, die ab dem 17. Jahrhundert den allein überlebenden Kistler ehören sollte. Die Helvetik teilte dann 1798 die Gemeindeleitung in eine politische Munizipalität und in die Verwaltung der Gemeindegüter auf. Der Begriff Verwaltungsrat blieb jedoch nachhaltig im Umlauf. Seit Napoleons Mediation im Jahr 1803 stand der Gemeindepräsident der Dorfgenossame vor, die Alpgenossame blieb hingegen privat. Als sich um 1840 die Hofgenossen auf ihre korporativen Aufgaben beschränkten, gaben sie sich mit dem Genossenvogt einen eigenen Chef. Noch nannte sich die Vereinigung schlicht Genossame Reichenburg. Zunehmend kam der Name Allgemeine Genossame und schliesslich die heute gebräuchliche Abkürzung AGR auf. Die AGR erhielt einen eigenen Präsidenten als Vorsteher. Erst ab 1000 nach Christus wurde die Linthebene zwischen dem Tuggnersee und dem heutigen Glarnerland linksseitig urbar gemacht, zu Beginn etwa mit dem Hof Milzikon in der Hirschlen durch das Kloster Pfäfers, was im Jahr 1116 urkundlich belegt ist. Beteiligt waren ebenfalls die zwei Höfe zu Buttikon und im Ussbühl durchs Kloster Schänis, was 1178 urkundlich festgehalten ist. Um 1250 bauten die Ritter von Windegg die Richenburg, 1300 verfügten sie bereits über sieben Familienliegenschaften. 1370 erwarb das Kloster Einsiedeln dann die Siedlung von den Windegger Nachfolgern und einem Rapperswiler Zwischenhändler. Zu diesem Zeitpunkt gehörten dazu zehn Sippen mitsamt Land, Leuten, allen Rechten und Gerichtsbarkeiten. Die Bauern nutzten neben ihrem privaten Gut die allgemein zugänglichen öffentlichen Weiden, Wälder, Riede und rodeten die Alpen. Die ältesten Reichenburger trugen Namen, wie sie in der Umgebung gebräuchlich waren, aber nur einzelne Geschlechter hielten sich bis ins 18. Jahrhundert. Die heutigen Genossenbürger-Geschlechter begannen erst mit der Reformation, als Zuzüger das Dorf zu prägen – abgesehen von den Kistlern, die als Holzfachleute schon im 15. Jahrhundert wohl wegen der Alprodung einsassen.

 

 

 

 

Einsiedeln kauft im Jahr 1370 den Hof Richenburg. Urkunde des Stiftsarchivs.

 

460 Jahre lang waren die Reichenburger politisch und gesellschaftlich vom Stift Einsiedeln abhängig – bei ordentlichem Freiraum, denn das Kloster überliess die Wirtschaft dem Dorf zu weitgehender Selbstverwaltung. Damit gab es in Reichenburg sozusagen zwei Machtsphären: die primäre der Herrschaft und die sekundäre der Hofleute-Genossame mit deren Abstimmungsmehr und gewählten Funktionären. Herrschaftliches Recht trat hauptsächlich an den obligaten zwei Jahresgerichten oder bei ausserordentlichen Auftritten in Erscheinung, wo das Stift die Männer zwecks hoheitlicher Verfügungen durch offizielle Vertreter einberief und teils im Verein mit seinen Dorfbeamten Gericht hielt. Diese Beamten waren der Vogt, Richter, Schreiber und Weibel. War der Abt neu, so liess er sich auf einem Umritt vom Volk huldigen, meist persönlich oder aber durch einen Delegierten.

 

Daneben versammelten sich die Hofgenossen häufig eigenständig, um die Gemeinwirtschaft zu regeln, wobei der Vogt als dörflicher Klosteraufseher zum Rechten sah. Wichtigere Streitfälle der Genossame entschied das Stiftsgericht.    

 

Natürlich sorgte das Kloster mit seinem Vogt und den Richtern dafür, Ordnung und gewisse Auflagen durchzusetzen. Dazu finden sich die Handänderungsgebühr, das Alkoholgeld oder etwa Steuerauflagen. Die Älpler versuchten mehrmals, die Dorfgenossen vom Hochwald auszuschliessen, sodass das Kloster seine Hofleute schützen musste. Trotz widriger Umstände, lästiger klösterlicher und anderer Auflagen lebten die Reichenburger unter dem Krummstab nicht schlecht.

 

 

Die separate Alpgenossame:

Ab dem 17. Jahrhundert den Kistlern allein verblieben

Das Roden der hochgelegenen Alpwälder war ebenso aufwendig wie mühsam. Es rief nicht zuletzt nach Gemeinwerk oder gar speziellen Unternehmern. In Reichenburg deuten nur ein paar Schlaglichter den Vorgang an, das meiste muss aufgrund der Quellenlage vermutet werden. Zur Einordnung hilft jedoch die Sprachgeschichte: Der Name Nöchen wird von einigen Sprachforschern für voralemannisch gehalten  Im Schwändirain und der Schwanten steckt das altdeutsche Wort «Schwenden» fürs Schälen der Bäume. Impliziert ist darin auch das Abbrennen der Bäume, was meist im Anschluss geschah. Gemäss dem Hofrecht von 1464 und seinen Grenzen war die Hauptrodung damals weit gediehen. Mitgearbeitet hatten Hofleute wie auch Zugezogene. 1469 privilegierte der Einsiedler Abt die Rodungssippen schriftlich, indem er ihnen das Nutzungsrecht seiner Alpen vorbehielt. Dazu gehörten sie selbstverständlich der Genossame der Hofleute an. Aus den Jahren 1570 bis 1590 ist eine Reut-Aktion im grossen Stil überliefert, die vom jeweiligen Dorfvogt organisiert und mit fremder Hilfe unternommen wurde. Ob Gleiches schon vorher geschehen ist, bleibt offen. Möglicherweise hatten sich die Kistler dabei als Fachleute betätigt, was ihr Name, der auf die Beschäftigung als Holzspezialisten hindeutet, nahelegt. Die erwähnte Urkunde von 1469 regelte übers Privileg hinaus die Alpnutzung wie folgt:

 

·         Vor der Alpfahrt ernannten die Genossen vier Vorsteher, die mit dem Vogt die Bestossung organisierten.

 

·         Die Alp war in erster Linie Rindvieh vorbehalten. Pferde sollten nicht vor Sankt Johannis Tag gealpt werden. Ungenössiges Vieh wurde nicht geduldet.

 

·         Bei grösseren Verstössen konnte der Vogt das best Haupt zuhanden des Grundherrn konfiszieren (so schon im Hofrecht von 1464).

 

·       Verliessen Genossen die Gemeinde, so verloren sie den Anspruch, konnten ihn aber bei Wiederkehr zurückkaufen.

 

·      Das Alprecht ging bei Ableben des Inhabers an die Witwe beziehungsweise an den Sohn über, der das Heimet erbte.

 

Regelmässig legten die Verordneten die fürs laufende Jahr vorgeschlagene Alpordnung dem Stift zur Genehmigung vor. Aus der Praxis ergaben sich Anpassungen. Der fünfte Vorsitzende war normalerweise der Dorfvogt, sofern er Alpgenosse war, sonst ersetzte ihn ein anderer ehrbarer Mann. Bis Mitte Mai musste jeder Genosse seinen Alpteil eingezäunt haben. Das Etzen im Wald war selbstverständlich und wurde deshalb kaum erwähnt. Die Alpen sollten laufend im Betrag von etwa 15 Gulden erweitert werden, um den steigenden Bedarf zu decken.

 

Im Gemeinwerk waren die Infrastrukturen wie Wege zu unterhalten. Jeder Genosse musste pro Stück Vieh eine Art Alpzins an die Betriebskosten entrichten, beim Zäunen helfen und ein Quantum Mist bereitstellen. Von Zeit zu Zeit waren ausserdem die Brunnentröge zu erneuern. Ried und Streu durften nicht ins Tal abgeführt, geschlagenes Holz erst nach Viehabtrieb ausgebreitet werden. Die Alpgenossen neigten dazu, sich gegenüber den Hofleuten auch im Hochwald und gelegentlich sogar auf der Allmend für privilegiert zu halten, sodass das Kloster sie im Abstand von einigen Generationen zurechtweisen musste.  Etwas speziell verlief auch das Etzen im äussern Wald.

 

 

Erste verlässliche Beschreibung der Dorfgenossame

aus dem Jahr 1801

Die erste verbindliche Darstellung der Genossame entstand bezeichnenderweise erst unter der kurzen Helvetischen Republik, die von 1798 bis 1803 den modernen liberal-radikalen Bundesstaat vorwegnahm. Die Gemeinde Reichenburg war damals autonom und in eine Munizipalität plus Verwaltung gegliedert. Der Munizipalität oblagen Politik, Recht und Ordnung, die Verwaltung aber betreute die Gemeindegüter, welche Reichenburgs Hofgenossame mit umfasste. Der Rapport darüber war von der Oberbehörde angefordert und von der Verwaltungskammer erstattet worden.

 

Bis die Dorfgenossame den Stand von 1801 erklimmen konnte, waren mehrere organisatorische Schübe notwendig. Etliches reicht im Ansatz wohl ins 13. Jahrhundert zurück. Fest steht, dass sich unter der Schirmherrschaft des Klosters Einsiedeln das «Gerüst» formen konnte. Früh wurden Bannvögte und Feldaufseher benötigt. Auch Allmend, Waldung und Riede wurden betreut und genutzt, um 1800 dann von rund 130 Genossen gegen Entgelt. Es waren fast ausschliesslich Haushaltsvorstände, dazu einige Nachkommen mit eigen Feuer und Licht. Überschüssige Jungbürger und Altledige gehörten nicht dazu. Die Hofgenossame anerkannte nachrückende Genossen und wählte die Funktionäre. Der Säckelmeister organisierte die Ganten und führte Buch, der Baumeister betreute das Gemeinwerk, zum Beispiel bei Weg- und Grabarbeiten. Mehr symbolisch bezogen die Funktionäre Lohn, einträglicher waren ihre Anteile an den Einnahmen (Sporteln).

 

Der Ertrag der Genossame aus Nutzungsgeldern, Bussbeiträgen und dergleichen deckte die normalen Ausgaben der Gemeinde. Als um das Jahr 1500 Reichenburg eine Pfarrei wurde, trugen die Hofleute viel durch Gemeinwerk am Kirchenbau, Geldzuschüsse und andere Formen dazu bei. Seit dann hielt ein gewählter (Haupt-)Kirchenvogt Aufsicht über das Kirchenurbar, die Stiftungen und Gebäude. Der Armenaufseher sowie die Pfleger der Katharinenkapelle und der Bruderschaften, Sigrist und Totengräber wurden bestimmt. Bei Vakanzen schlugen die Hofleute den gewünschten Pfarranwärter vor. Ab dem 18. Jahrhundert wurde dann Schule gehalten. Die Kirche stellte im Sigristenhaus das Klassenzimmer zur Verfügung, die Hofleute bezahlten den Lehrer, indem sie ein Schulried spendeten. Die leitenden Funktionen der Genossame setzten gewisse Kenntnisse und Fertigkeiten voraus, zum Teil eigentliches Schulwissen. Diese Funktionäre absolvierten letztlich eine Lehre. Die kurze Zeit der Helvetik schuf die selbstständige Munizipalität, was eine administrative Gemeindestruktur bezeichnet, und eine eigenständige Güterverwaltung. Dieser Bürokratie ist die hier zugrunde liegende fundierte Quellenbasis, zum Beispiel der helvetische Besitzkataster, zu verdanken.

 

Die Genossamen seit 1830

Die um 1830 einsetzende Epoche der Regeneration der Schweiz schlug sich politisch ebenfalls in Reichenburg nieder. Die Staatsverfassung «Kanton Schwyz Äusseres Land» von 1832 und die nachfolgende des wiedervereinigten Kantons Schwyz von 1833 gab den Kantonsbürgern Niederlassungsfreiheit, was die bisherige Einheit des Dorfes langsam lockerte. Unberührt vom Weltgeschehen blieb die Kistleralp-Genossame autark. Ebenso führten die Hofgenossen von 1803 bis 1840 ihre Einrichtungen unter verschiedenen politischen Gewalten fort, von 1803 bis 1814 unter der March, bis 1830 erneut unter dem Kloster Einsiedeln, dann erneut unter der March.

 

Weitere spannende Einblicke in die Geschichte der AGR finden sich im Marchring-Heft Nr. 64, der Jubiläumsschrift der Genossame, die zu Beginn dieses Kapitels erwähnt wurde.

 

Zum Stand der verfügbaren Quellen und Literatur

Geologen und Geografen haben die Naturgeschichte der Gegend um Reichenburg ausführlich untersucht. Seit dem späteren Mittelalter fliessen auch die Geschichtsquellen reichlich. In erster Linie ist das Klosterarchiv Einsiedeln zu nennen, dessen Stift der Hof Reichenburg bis 1931 unterstand. Das Gemeindearchiv des Dorfs besitzt eine gute Urkundensammlung, die ins 15. Jahrhundert zurückführt, und setzt die Klostergeschichte Reichenburgs mit eigenen Akten und Versammlungsprotokollen bis heute fort. Das Kistler-Archiv dokumentiert ab dem 17. Jahrhundert die eigene Geschichte. Seine lange ungeordnet in einer Holzkiste liegenden Akten wurden von Beat Glaus in monatelanger Arbeit verlesen, geordnet und verzeichnet. Das Archiv der AGR setzt erst um 1800 ein. Wie das Kistler-Archiv wurden die rund zehn Laufmeter unzusammenhängender alter Akten während Monaten durch den Historiker Beat Glaus verlesen, benutzbar gemacht und verzeichnet. Beides geschah unentgeltlich, «diente aber auch dem eigenen Interesse», sagt der Wahlzürcher. Carl Deuber restaurierte derweil die Einbände der AGR-Protokollfolianten. Die erste gründliche und solide Darstellung der Reichenburger Geschichte schrieb Dekan Meinrad Zehnder zum 400-Jahr-Jubiläum der dorfeigenen Kirche. Pater Johannes Heims vierbändige Geschichte der March berührt ebenfalls da und dort die Reichenburger Geschichte. 1989 erschien die Neuausgabe der Schwyzer Kunstdenkmäler von Albert Jörger, der Reichenburg nicht nur kunsthistorisch, sondern auch zuverlässig geschichtlich würdigt.  Dank dem Entgegenkommen des Marchrings, der Kulturhistorischen Gesellschaft der March, konnte Beat Glaus seit seiner Pensionierung Reichenburgs Geschichte mit mehreren Marchring-Ausgaben wiederbeleben. Als vorläufig letztes historiografisches Werk zu Reichenburg liegt nun die von Historikerin Tatjana Kistler betreute AGR-Festschrift vor.